Ein Jahr im Kreis
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Lange Fußballtexte wechselnder Autoren. Von und mit mir.
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Donnerstag, 3. September 2015

Tormaschine - Ein Jahr im Kreis #12

Die Frage der Motivation ist ein gewichtiges Thema beim Kreisklassenfußball. Es muss schon außerordentliche innere Beweggründe geben, die einen dazu bringen, sich Woche um Woche zu einer bestimmten Zeit im Ligabetrieb auf einem Fußballplatz einzufinden. Viel einfacher und günstiger, ohne das ganze Verbandsstatutengeraffel, wäre es, sich einfach mit seinen Bekannten auf dem Bolzplatz zu treffen - privat, freundschaftlich, zeitsouverän. Sich den Punktspielbetrieb in den untersten Ligen anzutun, dafür hat wohl jeder sein ganz persönliches Motiv.

Dank jahrelanger Feldforschung konnte ich eine kleine Typologie zur motivationalen Grundlage bei Kreisklassenfußballern zusammenstellen. Es folgt eine nähere Erläuterung der drei Grundtypen, die in Reinform, gemischt oder ineinander verknäult vorkommen können:

1. Der Wettkämpfer

Der Wettkämpfer ist immer als erster am Sportplatz bzw. am Treffpunkt für die Abfahrt zum Auswärtsspiel. Schließlich kennt er die Termine Wochen im Voraus. Er kann bereits in der ausgehenden Hinrunde die schweren Ansetzungen im kommenden April erläutern, die über den Ausgang der Saison entscheiden können. Plätze und Schiedsrichter, die Wehwechen und Topspieler beim Gegner und allerhand weiteres nischiges Nichtwissen hat der Wettkämpfer stets parat - das sind die Details, die über Sieg und Niederlage entscheiden.

Und genau darum geht es dem Wettkämpfer. Er muss um echte Punkte und Tore kämpfen, sonst bringt das Alles nichts. Trainingsspiele und Freizeitfußball sind ihm verleidet, obwohl er mitunter auch bei solchen Gelegenheiten Wettkampfhärte einstreut, damit ein bisschen was los ist auf dem Platz und sich die Mitspieler davon anstecken lassen.

Der Wettkämpfer scheint keinen Spaß am Spiel als solches zu haben sondern freut sich über Tore, noch mehr aber über Siege und Punkte. Er kann selbst dem gurkigsten Treffer etwas abgewinnen, wenn er nur zu seinen Gunsten fällt. Niederlagen empfindet der Wettkämpfer als Schmach, auch wenn das Spiel noch so dramatisch und abwechslungsreich war. Er ist ein Antreiber auf dem Platz und sieht es gar nicht gern, wenn sich ein Nebenmann hängen lässt. Selbst wenn es bereits 4:0 oder andersherum steht, lässt den Wettkämpfer sein Ehrgeiz nicht los - das Torverhältnis könnte schließlich entscheidend sein.

Fußball ist kein Spiel, es ist heiliger Ernst. Da ist es egal, ob Bundesliga oder Kreisliga.

2. Das verkannte Genie

“Aus dem hätte ein ganz Großer werden können!”
So raunt es bei jeder seiner Ballberührungen im Rentnerblock. Selbst wenn ein Abgleich mit der Realität dieser Aussage nicht standhält und gar die Aussage selbst ein innerer Monolog des verkannten Genies ist. Sie steht in Stein gemeißelt für diesen Spielertyp.

Für das Hängenbleiben auf Kreisklassen-Niveau hat er immer einen ganzen Strauß an Gründen parat: Sei es die Heimatverbundenheit, die ihn von den Fleischtöpfen des Profifußballs abhielt oder wichtige berufliche Weichenstellungen in der Vergangenheit. In den meisten Fällen standen tückische und meist einzigartige Verletzungen der professionellen Ausübung des Fußballsports im Weg - oft im Knie.

Die vom verkannten Genie vorgetragene Diagnose driftet meistens leicht ins Mystische und Dramatische ab, “hätte ich damals so weitergemacht, hätten die mir irgendwann das Bein abnehmen müssen, dabei waren die Scouts von [nahegelegener Viertligist] schon an mir dran, 3 Mal haben sie mich beobachtet, ich sollte zum Probetraining [...] damals”. “Damals” und “früher” sind zentrale Vokabeln des verkannten Genies. Oft schweifen seine Ausführungen in die Vergangenheit und ins Fantastische ab. Man hört sich als Mitspieler die Geschichten gerne an, möchte sie glauben. Wer möchte sich nicht mit einem verkappten Bundesligaprofi das Bällchen zuschieben?

Nur, wie bereits beschrieben, lässt sich im Hier und Jetzt selten ein Hinweis auf das verhinderte Jahrhunderttalent erkennen. Außer in der Attitüde auf dem Platz. Da kommt es den Mitspielern so vor, als würde sich ein Ex-Profi erbarmen, die Amateurkicker etwas an seinem leicht verblassten Ruhm teilhaben zu lassen. Müde trottet das verkannte Genie am Mittelkreis umher und fordert den Ball. Das verkannte Genie muss im zentralen Mittelfeld spielen. Nur dort kann es “die Fäden ziehen” und es fällt nicht weiter auf, dass die körperliche Verfassung bzw. die Motivation zu wünschen übrig lässt.

Außer durch diese zur Schau getragene Lebenseinstellung, fällt das verkannte Genie kaum auf, vor allem nicht fußballerisch. Spielt es doch mal einen passablen Pass, kann man sicher sein, noch oft davon erzählt zu bekommen. Wieder und immer wieder. Sehr anschaulich zwar, aber durch die ständige Wiederholung sehr ermüdend.

3. Der Mitläufer

Es gibt Mitspieler, die stehen auf dem Platz, weil sie das einfach schon seit jeher so machen. Soll heißen: sie verbinden keine innige Leidenschaft oder gar Liebe mit dem Fußballsport sondern Gewohnheit. Der Mitläufer hat sich daran gewöhnt, seinen Job auf dem Platz zu machen. Schließlich müssen ja mindestens elf Leute aufgeboten werden, damit es sich ordentlich spielen lässt.

So bestreitet er Spiel um Spiel, erfüllt seine meist unspektakulären Aufgaben auf dem Platz und freut sich mehr auf das Bier danach als auf den Siegtreffer in letzter Minute. Bloß keine Aufregung! Schließlich handelt es sich nur um ein bisschen Zeittotschlagen am Wochenende. Wer würde da eine Verletzung riskieren wollen?

Würde man den Mitläufer nicht zu jedem einzelnen Spiel persönlich einladen, er würde einfach wegbleiben. Glaubt man seinen Aussagen, so ist das Fußballspielen nur eine Pflicht, eine nicht unangenehme zwar, aber eben eine Pflicht. Der Mitläufer tut, was man von ihm verlangt und das ohne große Leistungsschwankungen.

Symbolbild mit freundlicher Genehmigung von Sasa 1)

Diese Typologie ist selbstverständlich holzschnittartig und unvollständig. Was mich dazu bewogen hat, sie in Gedanken zu entwerfen und niederzuschreiben ist, wie eingangs erwähnt, die Motivationsfrage. Explizit fragte ich mich in Gedanken, was einen speziellen Spieler Antrieb war und ist, dem ich immer wieder in der Kreisklasse gegenüberstand. Sein Name war Dräger oder Träger, nach seinem Vornamen hatte ich nie gefragt. Dieser Typ nervte mich und ich fragte mich ein ums andere Mal, warum verdammt nochmal dieser Dräger oder Träger in der Kreisklasse spielte.

Die Tormaschine


Er war im besten Fußballeralter, athletisch, beweglich, schnell, nicht zu groß, nicht zu klein, nicht zu dick, technisch ordentlich - durchgehend Eigenschaften, die untypisch sind und zu einer Überqualifikation für die Kreisklasse führen. Vor allem war er Stürmer. Und er tat, was ein Stürmer mit diesen Voraussetzungen gegen Abwehrreihen aus alten Säcken und fußballerisch Minderbemittelten halt so tat - er traf am laufenden Band. Gnadenlos, pausenlos, mühelos. Eine Tormaschine.

Das heißt jetzt nicht, das er in jedem Spiel 4-5 Mal den Ball versenkte, aber bekam er das Spielgerät in Tornähe, gab es wenig, was ihn halten konnte und früher oder später machte er seine Bude - oder zwei oder drei. Seine Gegenspieler waren von der Akkumulation an fußballerischen und körperlichen Fähigkeiten permanent überfordert.

So ein Gegenspieler wie dieser Träger oder Dräger konnte einem einen ganzen Nachmittag verleiden, selbst wenn er mal nicht traf. Sein Spiel auf dem Platz hielt einem den Spiegel vor. Da war jemand, der fitter war, schneller war und an einem vorbeispazierte, wann immer es ihm beliebte. Natürlich konnte man ihn mit Fouls stoppen, aber mir fehlte da etwas die Wettkämpfer-Attitüde (vgl. oben) als dass ich mich bei jedem Zweikampf auf unfaire Mittel hätte einlassen können. Was nutzte es am Trikot zu zupfen? Dräger oder Träger oder wie er hieß, spazierte dann zwar nicht mehr weiter Richtung Tor, aber man war sich der Unsportlichkeit der eigenen Aktion bewusst, was einem selbst wiederum die eigene Unterlegenheit nur noch mehr vor Augen führte. Ich fühlte mich bloßgestellt von diesem Typ, der alles besser konnte und noch dazu nicht besonders sympathisch wirkte. (Vielleicht war er auch ein ganz netter Typ und mein Eindruck von ihm war überlagert von meiner Missgunst.)

Ich wollte verstehen, warum er das tat - sich mit uns abgab, mit uns spielte, im wahrsten Sinne des Wortes. Ging es ihm um Selbstbestätigung? Fußball ist eigentlich kein gutes Vehikel, um sich Selbstbestätigung zu holen, wenn man bedenkt, wie hoch die Konkurrenz ist. Kein Sport ist beliebter, kein Wettbewerb größer. Wer unbedingt gewinnen will, sollte sich auf exotischere Sportarten verlegen. Ich kenne Europameister im Billiardkegeln, die Europameister wurden, weil sie es einfach ein paar Mal die Woche übten. Im Fußball stößt man schnell an seine Grenzen bei gleichem Trainingsaufwand. Immer gibt es eine Liga darüber, Spieler und Teams zu denen man aufblickt und die so gut sind, dass man glaubt, sie würden einer ganz anderen Sportart nachgehen.

Es ist ein bisschen wie mit dem Peter-Prinzip auf der Karriereleiter. Jeder stagniert auf einer Position, in einer Liga, der er gerade noch so gewachsen ist. Ist man zu gut, streckt die 1. Mannschaft die Fühler nach einem aus. Ist man zu schlecht, darf man von draußen zuschauen.

Dräger brach dieses Schema - er war kein verbissener Wettkämpfer oder ein über den Rasen stolzierendes verkanntes Genie. Er war einfach eine Klasse besser, spielte uns ohne großes Aufsehen zu erregen an die Wand und machte seine Tore. Der Arsch. Warum machte er das? Es konnte ihm doch nicht genügen, sich Woche um Woche mit uns und anderen Nulpen zu duellieren. In mir verfestigte sich der Gedanke, dass er es einfach nur tat, um uns zu demütigen und sich ein einfaches Erfolgserlebnis zu verschaffen.

So als würde man beim virtuellen Fußballspiel den Schwierigkeitsgrad auf “Anfänger” stellen, um ein paar zweistellige Siege einzufahren. So was macht man doch nicht mit Menschen! Der Sack! Zumal an der Konsole die Steuerung der ganzen Mannschaft in den eigenen Händen liegt. Im Real Life waren seine Mitspieler von ähnlichem Schlag wie seine Gegner. Dräger musste schlampige Pässe erlaufen und von vorne mit ansehen, wie seine Mannschaft bei der Verteidigung des eigenen Tores genauso herumstümperte wie alle anderen Teams auf diesem Niveau. Warum? Warum? Warum?

Über Jahre suchte ich nach einer Erklärung für sein Verhalten. Und hätte ich eine gefunden, sie hätte mich erst zufrieden gestellt, wenn sie diesem Typ attestiert hätte, polymorph pervers zu sein. Ich gönnte ihm den bescheidenen Erfolg nicht. Ich gönnte mir meinen Misserfolg nicht. Die Begründung, dass er einfach für seinen Heimatverein spielen wollte, ließ ich innerlich nicht zu, da musste ein dunkles Geheimnis sein. Ich habe es bis heute nicht ergründet.

Alles Grübeln war vorüber, wenn er einem auf dem Platz gegenüberstand. Die Partie im ausgehenden Winter war tabellenarithmetisch bereits bedeutungslos für uns. Dennoch war ich ehrgeizig. ER sollte kein Tor schießen. Er sollte rennen, sich abstrampeln, arbeiten und nicht mit einem Tor belohnt werden. Er sollte sich so fühlen, wie ich mich nach den meisten Spielen fühlte. So weit der Plan.

Damit dieser in Erfüllung ging, konnte ich mich keineswegs auf meine fußballerischen Fähigkeiten bzw. die meiner Teamkameraden verlassen. Der einzige Erfüllungsgehilfe der mir zur Verfügung stand, war der gute alte Zufall. Der Zufall, der Bälle weghoppeln, Standbeine wegrutschen und Schiedsrichter temporär erblinden ließ. 


Dräger oder Träger oder wie er hieß, zeigte sich von dem von mir stumm herbeigesehnten Zufall unbeeindruckt. Ganz unprätentiös spielte er wieder seinen Stiefel runter. Ein Laufduell - er war schneller. Ein Anspiel - er stellte seinen Körper geschickt dazwischen. Ein Zupfer an seinem Trikot - brachte ihn nicht aus der Ruhe und er konnte selbst entscheiden, ob er weiter Richtung Tor spazierte oder den Freistoß mitnahm. Es war wie immer ernüchternd. Man musste sich gar nicht vornehmen, ihn diesmal aber wirklich in Doppeldeckung zu nehmen und kaltzustellen. 

Chance um Chance erarbeitete er sich, ohne das ein Ende in Sicht oder ihm ein Zeichen der Müdigkeit oder gar Resignation anzusehen war. Ein Tor war ihm lange nicht vergönnt an diesem Nachmittag. Das schien ihn nicht anzuheben, er machte einfach weiter. Ich weiß nicht mehr, wie es geschah. Vor meinem inneren Auge gibt es keinen konkreten Spielzug zu der Situation, in der er letztendlich doch noch traf und unsere Niederlage besiegelte.

War es ein Alleingang, unser Unvermögen oder gar Zufall? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass er es sich verdient hatte. Und ich mir auch.




1) Sasa ist Groundhopper und stellt auf seinem Blog seine Bilder aus den Stadien Serbiens vor - die Veröffentlichung hier erfolgt mit seiner Genehmigung - vielen Dank!